Mariella Mehr und ihr Sohn Christian Mehr waren Opfer des Hilfswerks Kinder der Landstrasse. Ihre Beziehung haben diese traumatischen Erfahrungen fast zerstört.
Mutter und Sohn: Christian und Mariella Mehr 1970 im Rosengarten Bern.«Ich habe zu viel Scheisse im Kopf. Zu viele Bilder, zu viele Ideen, zu viel Ungerechtigkeit. Das muss raus. Ich werde im Frauengefängnis Hindelbank geboren. Dort wird meine Mutter weggesperrt, weil sie mit mir schwanger ist.» Das ist die Stimme von Christian Mehr, Sohn der Schriftstellerin Mariella Mehr, die im vergangenen Jahr 75-jährig gestorben ist.
Anfang des 20. Jahrhunderts hatten sozialdarwinistische und rassenhygienische Theorien Hochkonjunktur: Der Volkskörper sollte geschützt werden vor Parasiten aller Art und Menschen mit angeblich «minderwertigen» Erbanlagen. Bei der Wahl der Mittel war man unzimperlich: Die Stiftung nahm die Kinder den Eltern weg, platzierte sie bei Pflegefamilien oder in Heimen und liess sie in vielen Fällen auch psychiatrisch zwangsbehandeln. Zwischen 1926 und 1973 wurden annähernd 600 Kinder Opfer der Zwangsassimilierung von «Vagantenfamilien».
Mit spitzer Feder spiesst sie in einer Karikatur den Drachen namens «Kinder der Landstrasse» auf: Mariella Mehr, 2017.Privat ist die Drachentöterin weniger erfolgreich: Die Kleinfamilie bricht auseinander, Christians weiterer Weg wird markiert von Kleinklasse, Kinderpsychiatrie und einer anthroposophischen Heimschule, von der er verwiesen wird, nachdem er die Frau des Leiters attackiert hat.
Die Punks sind seine Familie: Christian Mehr in einer Wohngemeinschaft an der Berner Schwarztorstrasse, circa 1982.Es ist das Jahr 1981: Mariella Mehr debütiert als Autorin mit dem Roman «Steinzeit». Mehr wird nach ihrem literarischen Erstling immer wieder die Sprache als Herrschaftsinstrument und Mittel der Zurichtung beschreiben. Zwischen Mutter und Sohn herrscht zu diesem Zeitpunkt eine lautstarke, von Vorwürfen und Anklagen geprägte Sprachlosigkeit.
Bei Christian Mehr sind es 18’000 Franken. Nach wenigen Wochen ist das Geld aufgebraucht. Später kommt er ins Programm der kontrollierten Heroinabgabe und macht eine Ausbildung als Informatiker. Ein Internet-Café für armutsbetroffene Menschen der IG Sozialhilfe wird zu seinem neuen Lebensmittelpunkt.Erst 2019 hatte Mariella Mehr ihrem Sohn Einsicht in die Akten der Pro Juventute und des Hilfswerks erlaubt.
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